Was ist urbane Wildnis? – Ein Erklärungsversuch
- 11. Februar 2019 - Frankfurt
VON THOMAS HARTMANSHENN
Welches Verständnis hat das Projekt vom Begriff „Wildnis“ und welche Ansätze für die Steigerung der Diversifizierung von Lebensräumen finden Gebrauch?
Der Erhalt beziehungsweise die Steigerung der Arten- und Biotopvielfalt in den Städten gehört zu den Kernzielen von "Städte wagen Wildnis". Dieses Ziel ist eng mit dem Begriff der „urbanen Wildnis“ verknüpft. Für diesen Begriff haben sich die Projektpartner im Februar 2017 auf eine Definition verständigt, die wesentlich durch die bis dahin gemachten Erfahrungen bei der Durchführung des Vorhabens geprägt war:
„Wildnis in der Stadt bedeutet das Zulassen von Eigendynamik und natürlichen, von Zufall geprägten Entwicklungsprozessen. Um die Nutzbarkeit und Erlebbarkeit für die Stadtbevölkerung zu ermöglichen sowie Ziele der biologischen Vielfalt zu erreichen, können sich nicht alle Projektflächen vollständig zu Wildnis entwickeln“.
Erste Beispiele für Eingriffe auf den Flächen waren und sind die Pflegemaßnahmen am Fuße des Monte Scherbelino in Frankfurt, wo aufgrund des Vorkommens des Flussregenpfeifers keine freie Sukzession zugelassen wird (Notwendigkeit des Erhalts des günstigen Lebensraums für bedrohte Arten), ebenso wenig wie innerhalb der Halophyten- Gesellschaften am salzhaltigen Wasser des Flüsschens Fösse in Hannover. Zur Fortsetzung der intensiven Nutzung der Grünverbindung am Lindener Berg in Hannover durch Fußgänger, Radfahrer und Erholungssuchende wird auf der Projektfläche ein Kompromiss zur Förderung urbaner Wildnis verfolgt. Auf Teilen des weniger genutzten Mittelstreifens zwischen Rad- und Fußgängerweg wurden um vorhandene Bäume herum Wildnisinseln angelegt. Hier wird nicht eingegriffen, während zwischen diesen Inseln der Sukzession rund sechs Meter breite Freiflächen regelmäßig gemäht werden. In Dessau-Roßlau werden die Projektflächen am Räucherturm und Kohlehandel in unmittelbarer Nähe zur zentrumsnahen Wohnbebauung gemäht mit dem Ziel, die artenreichen und schön blühenden Wiesen zu erhalten.
Weitere Projekterfahrungen und zuvor nicht absehbare Möglichkeiten der Gestaltung haben im Februar 2018 zu einer Fortschreibung des Selbstverständnisses von „urbaner Wildnis“ im Kontext des Projektes geführt. Dies betrifft insbesondere die Klärung der Frage, welche Eingriffe auf den Flächen nötig sind bzw. möglich sein müssen – im Sinne der Zielerreichung (Arten- und Biotopvielfalt – aber auch was die Erfahrbarkeit der Wildnis anbetrifft). Die Projektpartner sind sich darin einig, dass das Vorhaben „Städte wagen Wildnis“ angesichts der realen Rahmenbedingungen in den drei Projektstädten und der zum Teil dramatischen Entwicklung beim Rückgang der Arten (insbesondere Insekten) einem spezifischen Verständnis von urbaner Wildnis folgen möchte. Mögliche Ausnahmen von der ungestörten Sukzession der Lebensräume, wie sie die Definition vom Februar 2017 einräumt, betreffen die Verkehrssicherungspflicht auf den Flächen ebenso wie den Artenschutz, wofür die oben angeführten Beispiele stehen. Aber auch der Projektansatz „Vielfalt erleben“ führt zu Eingriffen und Investitionen in die Fläche, die der Umweltbildung, der Orientierung und Besucherlenkung wie auch der Steigerung des Erlebniswertes dienen.
Die urbane Wildnis ist stets durch den Menschen beeinflusst. So zeigen eine Reihe von Projektstandorten ökologische Ausgangsbedingungen, die extrem anthropogen geprägt sind und damit eine nur eingeschränkte Regenerationsfähigkeit/ Sukzessionsdynamik erwarten lassen (vergleiche Monte Scherbelino oder auch die ehemaligen Keller auf Rodebille in Dessau-Roßlau) – insbesondere mit Blick auf die Projektlaufzeit. Aus diesem Umstand wie auch aus der selbst definierten Verantwortung gegenüber bestimmter Arten ziehen wir den Schluss, dass man im Zuge des Projektes angepasste Starthilfen für die Steigerung der Arten- und Biotopvielfalt leisten kann beziehungsweise „darf“, womit gezielt beziehungsweise punktuelle Eingriffe auf den Projektflächen verbunden sind – in der Regel mit dem Ziel des Erhalts und/oder der Schaffung bestimmter Lebensräume. Die punktuellen Eingriffe können reichen von der Extensivierung beziehungsweise Staffelung der Mahd (auf Erhöhung der Arten sowie des Erlebniswertes zielend), über extensive Beweidung, Rückschnitte und Artenentfernung bis hin zur Anlage und dem Freihalten spezifischer Kleinbiotope wie zum Beispiel Sandflächen oder Biotophölzer (Bilder hierzu unter dem Artikel). Durch das Verfüllen von Geröllhalden am Standort Monte Scherbelino in Frankfurt oder der ehemaligen Keller auf Rodeville in Dessau-Roßlau mit Sand beeinflusst beziehungsweise fördert das Projekt Lebensräume für Wildbienen und andere Erd- und Sandbewohner. Damit das so bleibt, müssen die Flächen weitgehend von Bewuchs freigehalten werden.
Die Realität (zum Beispiel Art und Intensität der Landnutzung oder Grad der Entwicklung der Sukzession) zeigt eine Vielzahl von Stadien oder Phasen der ökologischen Entwicklung bzw. Wertigkeit. Damit wäre eine Flächen- oder Zustandsbewertung, die lediglich zwischen „wild“ oder „nicht wild“ unterscheiden würde, nicht hinreichend. Im Vorhaben steht der Prozessschutz flächenmäßig vor Artenschutz. Solche Flächen wurden einst auch ohne Einfluss des Menschen geschaffen oder bewahrt (saisonale Überschwemmungen, Wildweide und vieles mehr) beziehungsweise sind sie im Zuge generationsübergreifender Traditionen extensiver Bewirtschaftung entstanden. Mit den gewählten Eingriffen wird Artenvielfalt nachhaltig gefördert. Zugleich steigen die Möglichkeiten, diese Vielfalt auch erleben zu können. Die Schaffung von Blickachsen, das Einrichten Grüner Klassenzimmer und wegebauliche Erschließungen sind Beispiele für die gezielte Steigerung der Erfahrbarkeit von Wildnis. Das heißt im Projekt „Städte wagen Wildnis“ dienen die Eingriffe/die Pflege dem Erreichen der formulierten Ziele. Mit diesem Ansatz begegnet das Projekt zugleich der Herausforderung, die Menschen mitzunehmen, wie etwa Besucher oder Nutzer der Flächen. Das Projekt muss Möglichkeiten bieten (so eines der Projektziele), Stadtwildnis zu verstehen und zu akzeptieren. Kurzfristige radikale Veränderungen beeinträchtigen die Wahrscheinlichkeit der nachhaltigen Zielerreichung (Akzeptanz) negativ.
10. Mai 2019
Ich würde eine einfache Sprache und einfachen Satzbau vorziehen, die/der auch Nichtbiologen/-akademikern ein flüssiges Lesen und Verstehen des Textes möglich machen würde.
Und ich würde dazu schreiben, welche Raubvogelart auf dieser Seite ganz oben zu sehen ist.
06. März 2019
Vielen Dank für Ihren guten Hinweis! Auch wir sind große Befürworter des Konzeptes der NER´s. Aber auch im Nordpark gibt es größere Flächen, die (auch im Rahmen unserer Umweltbildungsangebote) für Kinder frei zugänglich sind. Hier ist erlaubt und erwünscht durch Unterholz zu kriechen und die Natur auch auf eigene Faust zu erkunden. Wir geben Ihnen recht: Erfahrung und Begeisterung kommen vor Verständnis. Aber ausbaufähig, auch was weitere Flächen anbetrifft, ist das bestimmt. In Frankfurt und anderswo. Viele Grüße!
04. März 2019
Das Projekt verfolgt sehr gute Ziele. Bei der Umsetzung vermisse ich größere Flächen, die für Kinder frei zugänglich sind, also ohne Wegegebot. Damit schon im Kindesalter Verständnis für eine "wilde" Natur entstehen kann, sollten Kinder sie als Spielraum nutzen können. Dazu gibt es bereits gute Beispiele unter der Bezeichnung "Naturerfahrungsraum", siehe www.naturerfahrungsraum.de. Vielleicht können sie diesen Gesichtspunkt noch stärker beachten.
Mit freundlichen Grüßen
Hans-Joachim Schemel